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Die verlorene Fahrkarte
"Liebe deinen Nächsten, solange er noch warm ist", sagte oft
Herr Müller. Und das war keine leere Phrase, er war wirklich
immer bereit, jedem Menschen zu helfen.
Eines Tages fuhr Müller von Frankfurt/Main nach Leipzig. In
einigen Minuten mußte der Zug in Leipzig eintreffen. Da bemerkte
Müller, wie eine Dame unruhig wurde. Sie suchte etwas in ihrer
Handtasche, dann im Koffer und endlich in den Manteltaschen,
aber ohne Erfolg.
"Kann ich Ihnen helfen?", fragte Müller höflich. "Das ist nicht
möglich", antwortete die Dame, "denn ich kann meine Fahrkarte
nicht finden. Ich muß vielleicht die Fahrt noch einmal bezahlen".
Müller sagte in väterlichem Ton: "Machen Sie sich keine Sorgen.
Das ist ganz einfach. Ich gebe Ihnen meine Fahrkarte".
Die Dame nahm Müllers Karte und kam ruhig durch die Sperre.
Müller stand einige Meter hinter ihr und sah , wie sie die Karte
abgab. Dann ging er schnell an dem Schaffner vorbei. Der
Schaffner rief ihm nach:"Ihre Karte, bitte!".
"Haben Sie eben bekommen!"
"Sie haben keine Karte abgegeben!"
"Sie haben meine Karte!"
"Dann warten Sie bitte. Ich muß Sie der Aufsicht melden."
Der Aufsichtsbeamte fragte Müller:"Sie bleiben also dabei, daß
Sie Ihre Karte abgegeben haben?"
"Meine Karte", sagte Müller "ist unter den Karten, die Ihr
Kollege da in der Hand hält."
"Das muß man doch beweisen", sagte der Beamte mit leichter
Ironie.
"Das ist ganz einfach", sagte Müller und zog aus der Tasche
seinen Paß. "Sehen Sie hier mein Bild und meine Unterschrift?"
"Gewiß, aber was tut das zur Sache?"
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