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Dem Parlamentarischen Rat, der 1949 das Grundgesetz beschloss, stand als Vorbild für den
Bundeskanzler das Bild des britischen Premierministers vor Augen. Dieser verfügt über exakt die
gleichen Machtmittel wie der Kanzler, doch tatsächlich fällt dessen Macht weit hinter die des
britischen Premiers zurück. Im parlamentarischen System Großbritanniens regiert immer nur eine
Partei, denn das britische Mehrheitswahlsystem begünstigt die stärkste Partei. Im Bundestag besitzt
im Regelfall keine Partei die Mehrheit. Für die Kanzlerwahl ist deshalb üblicherweise eine
Koalition erforderlich.
Der Kanzlerwahl gehen ausführliche Beratungen zwischen den Parteien voraus, die
gemeinsam regieren wollen. Hier geht es dann im Einzelnen darum, wie die Ministerien zwischen
den Parteien aufgeteilt werden, welche Ministerien beibehalten und welche neu geschaffen werden
sollen. Der stärkeren Partei im Regierungsbündnis wird das Recht zugebilligt, den Bundeskanzler
zu stellen. Des Weiteren verständigen sich die Parteien auf die Vorhaben, die sie in den nächsten
Jahren in Angriff nehmen wollen. Die Ergebnisse dieser Koalitionsverhandlungen werden in einem
Koalitionsvertrag niedergelegt. Erst nach diesen Schritten wird der Bundeskanzler gewählt.
Verhandlungen zwischen den Regierungsparteien bereiten die Entscheidungen der Bundesregierung
vor und begleiten sie. Wenn sich der Vorrat an politischen Gemeinsamkeiten noch vor der Wahl
eines neuen Bundestages erschöpft, wird die Ablösung des Bundeskanzlers aktuell.
Mit der Ablösung des amtierenden Kanzlers durch ein – konstruktives – Misstrauensvotum
muss gleichzeitig ein neuer Kanzler gewählt werden. Diese offensive Aufkündigung des
parlamentarischen Vertrauens zwingt die im Bundestag vertretenen Parteien, eine neue,
arbeitsfähige Regierungsmehrheit zu bilden, bevor sie den Kanzler stürzt. Ein Kanzlersturz ist erst
zweimal versucht worden, nur einmal, 1982, gelang er: Dem damaligen Kanzler Helmut Schmidt
(SPD) wurde das Misstrauen ausgesprochen und Helmut Kohl (CDU) gewählt.
Der Bundeskanzler kann aber auch im Bundestag jederzeit die Vertrauensfrage stellen, um zu
prüfen, ob er noch den uneingeschränkten Rückhalt der Regierungsparteien genießt. Verliert der
Kanzler diese Vertrauensabstimmung, wenden sich also Teile der Regierungsmehrheit vom Kanzler
ab, dann liegt die Entscheidung, ob der Bundestag aufgelöst wird und damit Neuwahlen stattfinden
sollen, beim Bundespräsidenten. Der Bundespräsident kann die im Bundestag vertretenen Parteien
auch auffordern, die Bildung einer neuen Regierung zu versuchen.
Eine wirkliche Niederlage bei einer Vertrauensabstimmung hat es in der Geschichte der
Bundesrepublik nicht gegeben. Dreimal gab es jedoch verabredete Niederlagen: Die Abgeordneten
der Regierungsparteien oder die Minister enthielten sich der Stimme, um die Regierung zu Fall zu
bringen (1972, 1982, 2005). Dieser Weg wurde beschritten, um die nach der Verfassung sonst nicht
mögliche vorzeitige Neuwahl des Bundestages zu veranlassen. Er lässt sich nur mit Zustimmung
des Bundespräsidenten beschreiten und ist juristisch nicht unumstritten.
9. Der Bundesrat
Der Bundesrat ist die Vertretung der Länder, eine Art Zweite Kammer neben dem Bundestag.
Er muss jedes Bundesgesetz beraten. Als Länderkammer hat der Bundesrat die gleiche Funktion
wie die Zweiten Kammern in anderen Bundesstaaten, die meist als Senat bezeichnet werden. Dem
Bundesrat gehören ausschließlich Vertreter der Landesregierungen an. Das Stimmengewicht der
Länder trägt in sehr moderater Form der Bevölkerungsstärke Rechnung: Jedes Land hat mindestens
drei, die einwohnerstärkeren Länder bis zu sechs Stimmen.
Der Bundesrat wirkt am Zustandekommen der Bundesgesetze mit. Dabei unterscheidet er sich
von den Zweiten Kammern anderer Bundesstaaten. Das Grundgesetz sieht zwei Arten von
Mitwirkung vor. Bundesgesetze, die den Ländern zusätzliche Verwaltungskosten verursachen oder
die an die Stelle bisheriger Landesgesetze treten, unterliegen der Zustimmungspflicht des
Bundesrates: Der Bundesrat muss einem Gesetzesbeschluss des Bundestages zustimmen, damit
dieser wirksam werden kann. Hier hat der Bundesrat den Status einer mit dem Bundestag
gleichberechtigten gesetzgebenden Körperschaft. Gegenwärtig sind knapp 50 Prozent aller
Gesetzesbeschlüsse zustimmungspflichtig. Weil die Bundesgesetze grundsätzlich von den
Länderverwaltungen ausgeführt werden, bringen die wichtigsten und kostenintensiven Gesetze die
Verwaltungshoheit der Länder ins Spiel. Von diesen Zustimmungsgesetzen sind die
„Einspruchsgesetze“ zu unterscheiden. Diese kann der Bundesrat zwar ablehnen. Der Bundestag
kann den Einspruch aber mit der gleichen Mehrheit wie im Bundesrat, mit einfacher oder mit
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